Wohneinheit 2016
Sollte man Dennis Sierings künstlerisches Denken charakterisieren, so scheint sein zentrales Interesse um das Bezugsfeld des Menschen zu seiner von ihm gestalteten Umwelt zu kreisen. Die Auseinandersetzung mit Architektur, Wohn- und Lebensräumen und deren Veränderungen durch Moden und Lebensgewohnheiten sind dabei wichtige Themen seiner skulpturalen Arbeiten.
So besteht die Skulptur Wohneinheit von 2013 aus zwölf horizontal in Dreiergruppen übereinander angeordneten Vierkantstelen, die typische Oberflächen und Materialien aktueller Inneneinrichtungen wiedergeben. Fliesen, Parkett, Glas, Lack und Raufasertapete verweisen auf die uns umgebenden Oberflächen, ohne dabei architektonisch einen Wohnraum zu beschreiben. Vielmehr summiert die Arbeit die Erfahrungen unseres Umraums und reflektiertdabei über den Wandel in der Gestaltung unseres Lebensumfeldes.
Auch die Arbeit ‚Desolate Peak’ aus dem Jahr 2015, bestehend aus drei übereinander geschichteten Kuben aus Carbongewebe, die auf vier Rollen frei beweglich im Raum positioniert werden können, thematisiert die Beziehung des Werkes im Kontext seines Umgebungsraums, der sich, je nach Platzierung der Arbeit, in den Oberflächen spiegelt. Zugleich scheint der dreiteilige Kubus, aus einem anderen Winkel betrachtet, jede Spiegelung und Reflexion zu absorbieren.
Augenscheinlich in Sierings Werken ist ihr Maß- und Größenverhältnis, das sich an anthropomorphen Dimensionen orientiert. Die Länge der Werke ist zumeist auf eine durchschnittliche Körpergröße hin konstruiert, Umfang und Tiefe vieler Arbeiten nehmen das Maß der Handspanne zum Ausgangspunkt.
Die aktuelle Werkserie ‚Vertical Memory’ und die Serie von Arbeiten, die Pigment auf Aluminium durch eine komplexe Druckverfahrenstechnik fixiert, nimmt die hier beschriebenen Aspekte auf, erweiterte diese aber um zwei zentrale thematische Achsen, der Zeit und der Bewegung.
Die einzelnen Stelen der in ihrer Anzahl beliebig erweiterbaren Serie erinnern zunächst an Bohrkerne wissenschaftlicher Rammkernsonden, wie sie aus der geologischen Erforschung der Erdgeschichte bekannt sind. Gefasst ist jeder der Bohrkerne in identisch gestaltete Röhren aus Aluminium, die jeweils im oberen und unteren Bereich breite Öffnungen aufweisen, um den Blick auf die Materialität der Bohrkerne freizugeben. Bestehen wissenschaftliche Bohrkerne zumeist aus Stein, Erde oder Eis, so zeigt sich in der genaueren Betrachtung der hier verwendeten Materialien, das unterschiedlichstes organisches Material, wie Erde, Stein oder Sand durch die Durchsetzung mit Epoxid zu einer festen und unveränderlichen Substanz verbunden wurde. Zudem sind die organischen und mineralischen Ausgangsmaterialien an vielen Stellen mit synthetischen Stoffen, wie Carbonfasern, Beton, Kabel oder dem reinen Epoxid durchsetzt. Organische und mineralische Stoffe werden in ‚Vertical Memory’ durch dieses Verfahren synthetisiert und können nicht mehr als natürlich verstanden werden.
Da die Arbeit eine Lesbarkeit als wissenschaftlichen Bohrkern anbietet, der Auskünfte über die Entstehungsgeschichte der Erde liefert, verdeutlicht sich eine zeitliche Ebene, die die Serie durchdringt. Weist die geologische Ausrichtung des Bohrkerns auf die Vergangenheit der Erde, so zeigt sich in Sierings thematischer Aneignung dieses Motivs durch die Verwendung von künstlichen Stoffen und der Durchsetzung der natürlichen Materialien mit synthetischen, eine narrative Wendung hin zu einem vermeintlichen Blick in die Zukunft und die Gegenwart des Menschen. Wurden die Bohrkerne von einer zukünftigen Zivilisation der Erde entnommen? Berichten die Ablagerungen und Durchsetzungen des Erdreichs durch Epoxid, Beton und Carbon von einer Kultur, die heute noch unbekannt ist? Diese Assoziationen lassen ein Narrativ entstehen, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft evokativ verwoben werden. Eine noch nicht erlebte Zeit, eine noch nicht gedachte Zukunft scheint dystopisch in den einzelnen Stelen der Serie auf und verweist doch immer wieder auf unsere Gegenwart und unseren Umgang mit der Natur als Grundlage und Ressource unseres Seins. ‚Vertical Memory’ zeichnet ein Bild der domestizierten Natur, der Natur im Zugriff menschlicher Verwendung und damit liefert die Arbeit zugleich eine Erzählung über die Gegenwart und Zukunft unseres Umgangs mit dieser.
Die Arbeit ‚the middle of nowhere’ aus einer Serie von auf Aluminium fixierten Pigmentdrucken geht auf Aufnahmen zurück, die Siering einer Datenbank der NASA entlehnt hat, diese werden im Bildfindungsprozess allerdings stark verändert. Die Wirbelbewegungen, die das Bildzentrum beherrschen, scheinen die im Hintergrund als Landmasse zu deutenden Höhenzüge zu verwüsten und unter der Bewegungsdynamik zu erdrücken. Auch hier wird ein uneindeutiges Verhältnis zwischen einer dokumentarisch angelegten Aufnahme, des Satellitenbildes, und den Eingriffen des Künstlers zugunsten einer fiktiven, erzählerischen Veränderung des Ausgangsmaterials etabliert. Wie in den vermeintlichen Bohrkernen der ‚Vertical Memory’-Serie auch, scheint sein Interesse an der Neuformation von gegebenen, natürlichen Phänomenen und deren Veränderungen durch einen anthropogenen Faktor bestimmt zu sein. Das Werk ist kein Bild von etwas, sondern nimmt eine wissenschaftliche Aufnahme zum Ausgangspunkt einer Reflexion über das Wechselverhältnis von Natur und Kultur, vom wissenschaftlichen Dokument hin zum künstlichen Objekt.
Wurde in ‚Vertical Memory’ Zeit als Narrativ einer fiktionalen Zukunft der Erde unter der Beherrschung durch den Menschen thematisiert, so bindet sich die Bewegungsdynamik in ‚ the middle of nowhere’ an diese Konstruktion eines erzählerischen Momentes an, ohne dabei den Menschen selbst vordergründig zu thematisieren.
Nicht das Subjekt wird in den aktuellen, lose aufeinander bezogenen Werken Sierings zum Thema, der Mensch tritt vielmehr als abstraktes Kräfteverhältnis gegenüber der Natur in Erscheinung, das diese durchdringt und gestaltet. Das humanistische Modell des Subjekts, als Zentrum der Welt und als autonom handelndes Individuum, erscheint in seinem künstlerischen Denken als obsoletes Bild der Moderne. Vielmehr kann seine Kunst als Postulat eines relationalen Selbst gelesen werden, wobei unser Menschsein von Wechselwirkungen zwischen Materie und Denken bestimmt wird. Ein Kontinuum von Natur und Kultur erscheint hier radikal in Frage gestellt zu werden. Diese Vorstellung schließt an ein posthumanes Denken an, ohne dieses bloß künstlerisch zu bebildern. Die strenge, serielle Form und die technoide Ästhetik seiner Arbeiten folgen einer bildhauerischen Praxis, die Denkmodelle assoziativ in Form eines Versuches materialisiert. Kunst ist hier im besten Sinne ein Weg der diskursoffenen Reflexion überden Menschen und den Bezugsfeldern seiner Umwelt.
Dennis Sierings Kunst verdeutlicht nicht zuletzt eine Unschärfe im Verhältnis zwischen Mensch und Natur, die auf einer langen Geschichte fußt. Wurde die Natur bis ins 17. Jahrhundert als Wildnis, die es mit den Mitteln der Kultur zu überwinden gilt, verstanden, so kippt diese Zuschreibung mit den idealistischen Modellen des späten 18. und 19. Jahrhunderts zugunsten eines Verständnisses der Natur als idealisiertes Andere. Der Mensch soll nun wieder in eine Einheit mit der Natur gebracht werden. Die Zurichtungen der industriellen und wissenschaftlichen Nutzung der Natur durch den Menschen werden in diesem Kontext nicht thematisiert. Heute, so scheint es, und auch so kann sein Werk gelesen werden, zeigt sich in dem Verhältnis von Mensch und Natur eine Nicht- Eindeutigkeit, wie wir Natur und natürliche Phänomene losgelöst von menschlichen Eingriffen überhaupt noch erfahren können oder ob diese Erfahrung in der Durchdringung von Kultur und Natur überhaupt jemals möglich war.
Und doch ist seine Arbeit auch ein Spiel mit den Möglichkeiten einer künstlerischen Setzung. Kunst ist immer Gegen-Natur, ist zutiefst anthropogen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kultur wird in seiner Arbeit an einen Punkt geführt, an dem Natur, Geschichte und Kultur ineinander fließen und einen unerlösten Zustand einnehmen.
Sierings Werk umkreist den Menschen, ohne ihn visuell abzubilden, das anthropogene Potential seiner Arbeiten scheint eher in der Beschreibung des Spannungsfeldes des Menschen zu seiner Umwelt zu bestehen. Sein künstlerisches Denken dezentralisiert den Menschen, ohne ihn inhaltlich zu negieren. Das Anthropozän als neue, geochronologische Epoche wird in Dennis Sierings narrativ angelegter Kunst dystopisch bebildert.
Felix Ruhöfer